Vielfalt in der Bibel statt Exklusion durch die Bibel

„Steh auf!“

Die Wunderheilung des Kranken am Teich von Betesda inklusiv gelesen.
von Constanze Kobell



Die Heilung des Gelähmten am Teich Betesda. Sant‘ Apollinare
Nuovo/Ravenna. Foto: Public domain, via Wikimedia Commons

Im Johannesevangelium sagt Jesus zu einem Kranken, der am Boden liegt, „Steh auf (…)und geh“. Sofort steht der Kranke auf, obwohl der 38 Jahre nicht dazu in der Lage war.

In diesem Beitrag möchte ich zeigen, welche Probleme für Menschen mit Behinderungen in der herkömmlichen Deutung dieser Wundererzählung liegen und wie diese Bibelstelle dennoch für Menschen mit Behinderungen und benachteiligte Menschen stärkend und ermutigend wirken kann.

Die Wundergeschichte liest sich in der Elberfelder Bibel so:

Heilung eines Kranken am Teich Betesda (Joh 5, 1-9)

1 Danach war ein Fest der Juden, und Jesus ging hinauf nach Jerusalem.

2 Es ist aber in Jerusalem bei dem Schaftor ein Teich, der auf Hebräisch Betesda genannt wird, der fünf Säulenhallen hat.

3 In diesen lag eine Menge Kranker, Blinder, Lahmer,

4 Dürrer.

5 Es war aber ein Mensch dort, der achtunddreißig Jahre mit seiner Krankheit behaftet war.

6 Als Jesus diesen daliegen sah und wusste, dass es schon lange Zeit so mit ihm steht, spricht er zu ihm: Willst du gesund werden?

7 Der Kranke antwortete ihm: Herr, ich habe keinen Menschen, dass er mich, wenn das Wasser bewegt worden ist, in den Teich wirft; während ich aber komme, steigt ein anderer vor mir hinab.

8 Jesus spricht zu ihm: Steh auf, nimm dein Bett auf und geh umher!

9 Und sofort wurde der Mensch gesund und nahm sein Bett auf und ging umher. Es war aber an jenem Tag Sabbat.

Diese Wundererzählung von der Heilung des Kranken am See Betesda steht am Anfang des Johannesevangeliums. Jesus steigt nach Jerusalem hinauf und bringt dort jemanden zum Aufstehen, im altgriechischen Urtext steht dort ἔγειρε vom Verb εγείρω. In diesem Wort liegt auch die Bedeutung des „Auferstehens“. Im Laufe des Johannesevangeliums stehen mehrere Menschen in Zusammenhang mit Wunder wieder auf. Dieses mehrfache Wiederaufstehen bereitet die Lesenden auf das größte Wunder vor: Die Auferstehung Jesu Christi.

Die Wundererzählungen zeigen dem Lesenden die göttliche Natur Jesu. Jesus ist kein normaler Mensch, Jesus ist der Logos, Jesus ist Gott.

Somit geht es in den johanneischen Wundererzählungen darum, dass Gott sich in und durch seinen Sohn Jesus Christus zur Sprache bringt.

Was passiert bei dieser Wunderzählung?

Jesus steigt zum See hinauf, wo viele Kranke und ausgezehrte Menschen liegen und auf Heilung hoffen. Darunter ist eine Person, die im Urtext eine ἀσθενείᾳ, eine Krankheit, hat.

Dieser Mensch hier ist somit nicht zwingend gelähmt. Seine Krankheit kann Fall z.B. auf eine psychische Krankheit oder eine Schwäche hindeuten.

Nach einem kurzen Dialog heilt Jesus ihn mit den Worten: „Steh auf, nimm dein Bett auf und geh umher!“

Hier kommt das „Aufstehen“, das auf das Auferstehen Jesu vorbereiten soll. Doch Jesus sagt ihm auch, dass sein Bett mit sich tragen soll.

Das Bett wird so zum Symbol für das erlittene Leid, als wolle Jesus damit sagen, dass immer eine Erinnerung an die Schmerzen der Vergangenheit bleiben wird. Doch der Geheilte kann sein Bett nun problemlos tragen. Das bedeutet: Wir können lernen mit unseren schmerzhaften Erinnerungen und Narben zu leben.

Welche Auslegung dieser Geschichte wirkt NICHT verletzend für Menschen mit Behinderungen?

Für Menschen mit Behinderungen kann es verletzend wirken, wenn in einer biblischen Erzählung ein nicht – normkonformer Körper automatisch einer Heilung bedarf. Auch das Feiern eines geheilten und nun normkonformen Körpers als höchstes Glück und als Beweis für Gottes Wirken kann respektlos wirken.

Denn viele Menschen mit Behinderungen fühlen sich wohl in ihrem Körper und erwarten zurecht von ihrer Umwelt, dass sie so akzeptiert werden, wie sie sind.[1]

Das spiegelt sich auch in der UN-Behindertenrechtskonvention aus dem Jahr 2008 wider. Schon in der Präambel werden die Gleichwertigkeit und Gleichberechtigung von Menschen mit Behinderungen festgehalten. Der Zustand einer Behinderung wird nicht mehr nur medizinisch, sondern auch sozial definiert. Man ist nicht in erster Linie durch einen medizinisch defizitären Körper behindert, sondern man wird durch die Barrieren in der Umwelt behindert.

Der Gesetzgeber hat durch Maßnahmen dafür zu sorgen, dass Menschen mit Behinderung vollumfänglich am gesellschaftlichen Leben teilhaben können.

Dennoch können Heilungsgeschichten auch für Menschen mit Behinderungen tröstend, motivierend und glaubensstärkend wirken.

Eine Möglichkeit ist, Jesus nicht als Heiler, sondern als ermutigenden Unterstützer zu sehen.

Anhand der von mir untersuchten Perikope könnte das so aussehen:

Jesus heilt nicht ungefragt.

Er traut dem Kranken eine eigene Meinung zu.

Deshalb fragt er ihn: „Willst Du gesund werden?“

Er hört sich die Erklärung des Kranken an.

Der Kranke beklagt, dass er seit 38 Jahren keinen Menschen hat, der ihm zum Teich hilft.

Jesus ist in dem Moment genau der Mensch, den der Kranke braucht.

Er heilt ihn durch seinen Zuspruch. Er heilt ihn auch dadurch, dass er ihm etwas zutraut.
Er traut ihm zu, dass er aufstehen und herumgehen kann.

Dieses Vertrauen könnte sich auch auf etwas ganz anderes beziehen.

Er könnte auch sagen:

„Werde selbstständig!
Fahre mit Deinem Rollstuhl allein in die U-Bahn. Das traue ich Dir zu.“

Auch unterdrückten Menschen kann diese Geschichte Kraft geben

Archäologische Funde haben gezeigt, dass die Knochen der Menschen, die zu Jesu Zeit im Heiligen Land lebten, von Nährstoffmangel gezeichnet waren. Demnach waren viele Menschen damals mangelernährt und als Folge krank und schwach. Man führt das auf die wirtschaftliche Ausbeutung durch die römischen Besatzer zurück.

So gesehen kann das „Steh auf“ auch als Rebellion und somit als Heilungsmöglichkeit für ein ganzes Volk gesehen werden. Vielleicht dachten die zeitgenössischen Autoren, die wahrscheinlich auch unter der Besatzung litten, auch in diese Richtung.

Opfern des Patriachats kann diese Erzählung ebenfalls helfen.

Kudzai Biri, eine Religionswissenschaftlerin aus Simbabwe untersuchte in unterschiedlichen Gruppen, wie Frauen in ihrer Heimat die Perikope „Heilung eines Kranken am Teich von Betesda“ wahrnehmen. Die Gruppe der Akademikerinnen deutete das „Steh auf“ als ein Aufstehen gegen das Patriachat.

Das Patriachat zeigt sich in Afrika und vor allem auch in Simbabwe in einer ausgeprägten Männer-Kultur, in der Frauen als minderwertig gelten. Sie werden deshalb oft Opfer von Gewalttaten.

Die Täter werden demensprechend selten zur Verantwortung gezogen.

Frauen, die sich gegen die Männerherrschaft wehren und mehr Rechte fordern, werden verunglimpft.

Die Bibel wird in Simbabwe meist so ausgelegt, dass Frauen in einer unterwürfigen Rolle gehalten werden.

Demensprechend forderte es von den Frauen viel Mut, diese Perikope als einen Angriff auf das Patriachat auszulegen.

Diese Auslegung kann unterdrückten Frauen in aller Welt Kraft geben. Bemerkenswerterweise steht nirgends in der Perikope, dass der Kranke ein Mann war. Es könnte auch eine Frau gewesen sein, die 38 Jahre am See lag und auf einen Menschen gewartet hat, der ihr hilft.

Zusammenfassung

Die johanneischen Wundererzählungen sollen zeigen, dass Jesus Christus Gottes Sohn ist. Ein Aspekt dabei ist, dass die in den Heilungserzählungen darnieder liegende Menschen wieder aufstehen. Das soll auf das größte Wunder, die Auferstehung hinweisen.

Bei der Auslegung dieser und anderer Heilungsgeschichten ist darauf zu achten, dass die Gefühle und die Würde von Menschen mit Behinderungen nicht verletzt werden.

Denn die Gleichstellung der Genesung mit einem „Happy End“ kann verletzend wirken. Darüber hinaus widerspricht diese Gleichstellung dem Selbstverständnis von Menschen mit Behinderungen, die in ihrem So-Sein akzeptiert und unterstützt werden möchten.

Demensprechend ist es angemessener, die unterstützende Rolle von Jesus Christus zu betonen. Durch seinen Zuspruch findet ein Mensch Kraft, die eigenen und fremde Grenzen zu überwinden.

Diese Auslegung kann auch für unterdrückte Menschen motivierend und ermutigend sein.

Mein Blogartikel ist aus diesem Essay entstanden:

Constanze Kobell:
Ermutigende Auslegungsmöglichkeiten der Perikope „DieHeilung eines Kranken am Teich Betesda“ (Joh 5, 1-9) für benachteiligte Menschen und Menschen mit Behinderungen.
Essay zur Vorlesung: „Welt und Umwelt des Neuen Testaments. Eine Einführung.“
Universität Luzern, Prof. Dr. Robert Vorholt

Auswahl der verwendeten Literatur

Bechmann, Ulrike, Biri Kudzai, und Joachim Kügler. Steh auf und geh! Die Heilung eines kranken Menschen (Joh 5). Auslegungen und Bibelarbeiten zum Weltgebetstag. Stuttgart: Katholisches Bibelwerk e.V, 2019.

Kollmann, Bernd, und Ruben Zimmermann, Hrsg. Hermeneutik der frühchristlichen Wundererzählungen: geschichtliche, literarische und rezeptionsorientierte Perspektiven. Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament 339. Tübingen: Mohr Siebeck, 2014.

Müller, Andreas. „Krankenversorgung und Nächstenliebe – Arzt für den Leib oder die Seele?“ Welt und Umwelt der Bibel Nr 76, Nr. 02/2012 (2012): 61–67.

Schiefer Ferrari, Markus. Exklusive Angebote: biblische Heilungsgeschichten inklusiv gelesen. Ostfildern, 2017.

Zimmermann, Ruben, Detlev Dormeyer, Judith Hartenstein, Christian Münch, Enno Edzard Popkes, Uta Poplutz, István Czachesz, u. a., Hrsg. Kompendium der frühchristlichen Wundererzählungen. 1. Auflage. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 2013.

Copyright: Constanze Kobell


 

 

1 Kommentar

  1. Dorothee Janssen

    „Jesus heilt nicht ungefragt.“ Das ist in meinen Augen ein stimmiger Schlüssel für inklusive Bibellesen (und -verstehen).

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