Text von Constanze Kobell

"Jesus heilt einen Blinden". Relief auf dem Sarkophag "de la Loi par le Christ" 
(dt: durch das Gesetz des Christus) in der Kirche St. Victor, Marseille.
„Jesus heilt einen Blinden“. Relief auf dem Sarkophag „de la Loi par le Christ“
(dt: durch das Gesetz des Christus) in der Kirche St. Victor, Marseille.
Bild: Constanze Kobell

In der Bibel gibt es viele Erzählungen, in denen Jesus Kranke oder Menschen mit Behinderungen heilt. In den biblischen Texten ist auch die Freude darüber beschrieben, dass die Geheilten nun wieder „normal“ sind.

Doch wie wirken solche Erzählungen auf Menschen mit Behinderungen, die auch mit ihrer Behinderung als „normal“ gesehen werden wollen?

Dieser Frage bin ich im Rahmen eines Essays für mein Theologiestudium nachgegangen.

Dazu habe ich blinden Menschen die Bibelstelle „Jesus heilt einen Blinden“ aus dem Markusevangelium geschickt und sie gebeten, ihre spontanen Gedanken und Gefühle dazu aufzuschreiben.

Was sie dazu sagten, kommt gleich.

Damit Ihr diese Bibelstelle richtig einordnen könnt, ist aber ein bisschen Vorwissen wichtig.

Die Geschichte „Jesus heilt einen Blinden“ findet sich im 8. Kapitel des Markusevangeliums von Vers 22 bis Vers 26.

In der sogenannten Einheitsübersetzung der Bibel lautet die Erzählung so:

„Sie kamen nach Betsaida. Da brachte man einen Blinden zu Jesus und bat ihn, er möge ihn berühren.

Er nahm den Blinden bei der Hand, führte ihn vor das Dorf hinaus, bestrich seine Augen mit Speichel, legte ihm die Hände auf und fragte ihn: Siehst du etwas?

Der Mann blickte auf und sagte: Ich sehe Menschen; denn ich sehe etwas, das wie Bäume aussieht und umhergeht.

Da legte er ihm nochmals die Hände auf die Augen; nun sah der Mann deutlich. Er war wiederhergestellt und konnte alles ganz genau sehen.

Jesus schickte ihn nach Hause und sagte: Geh aber nicht in das Dorf hinein!“

Die Forschung geht davon aus, dass dieser Text ungefähr im Jahr 70 n. Chr. geschrieben wurde, Jesus war zu diesem Zeitpunkt also schon ungefähr 40 Jahre tot.

Wer das Markusevangelium geschrieben hat, ist bis heute nicht eindeutig geklärt. Es war aber sicher eine Person, die mehr oder weniger ein Zeitgenosse von Jesus war, und der die Lebensumstände der damaligen Zeit gut bekannt waren.

Der Blinde wird in der Erzählung mit dem altgriechischen Wort τυφλὸν beschrieben. Das kann mit körperlich blind, also unfähig zu sehen,  aber auch mit geistig und seelisch blind übersetzt werden. Es geht hier also vielleicht mehr um das Erkennen als um das Sehen.
Dazu passt, dass Jesus wenige Zeilen vor „Jesus heilt einen Blinden“ zu seinen Jüngern sagt: „Habt ihr denn keine Augen, um zu sehen, und keine Ohren, um zu hören?“
Jesus wirft darin den Jüngern vor, sein Wesen und sein bevorstehendes Leiden nicht begreifen zu wollen.
Der Theologe Udo Schnelle schreibt dazu: „Die Rahmung des Mittelteils durch zwei Blindenheilungen (..) hat metaphorischen Charakter. Den Jüngern und mit ihnen der markinischen Gemeinde sollen die Augen geöffnet werden, wer dieser Jesus von Nazareth ist: Der leidende Gottessohn, der in die Leidensnachfolge ruft.“
Dazu passt, dass in der Bibel das Auge oft als allegorische Darstellung des Erblickens und Erkennens verwendet wird.“
Es geht in der Blindenheilung also darum, dass Menschen die Natur Jesu erkennen sollen.
Sollen wir den angeblich geheilten Blinden allegorisch verstehen?
War er nur begriffsstutzig und gar nicht blind?

Ich denke nein.
Da an vielen Stellen der frühen christlichen Schriften von den Krankenheilungen durch Jesus berichtet wird, hat er sich wohl tatsächlich kranker Menschen angenommen und diese geheilt. Im Markusevangelium sind an die zwanzig sogenannten Wunderheilungen erwähnt. Dieser Aspekt war der Person, die das Markusevangeliums verfasst hat, anscheinend besonders wichtig.
Vielleicht wollte sie nachdrücklich darauf hinweisen, dass die Sorge um Kranke ein wichtiger Bestandteil des Lebens als Christin oder Christ ist.
Den Auftrag zum Heilen wird auch dadurch deutlich, wie Jesus mit Macht umgegangen ist. Er hat die Macht, die er von Gott erhalten hat, nicht dadurch bewiesen, dass er Goldstücke hat regnen lassen oder die römischen Besatzer geschlagen hat.
Jesus hat seine Macht und seine wahres Wesen durch effektive Hilfe für leidende Mitmenschen bewiesen. Diese Wunderheilungen sollen demnach  als Zeichen dafür gesehen werden, dass das Reich Gottes anbricht und Rettung durch den Glauben möglich ist.
Das oben gezeigte Relief des Sarkophags aus dem 5. Jahrhundert erinnert auch daran, dass die „Gesetze von Jesus“ auch die Heilung der Kranken beinhalten.

Eine plötzliche Heilung kam zu damaliger Zeit für einen Blinden oder erblindeten Menschen wahrscheinlich wirklich einer Rettung gleich.

Denn in der Antike gab es kaum medizinische Hilfe für Sehbehinderte, geschweige denn Informationen in Braille-Schrift, Computer mit automatischer Vorlesefunktion oder staatliche Sozialleistungen wie Blindengeld. Ein blinder Mensch konnte damals nicht für sich selbst sorgen und war deswegen in den allermeisten Fällen auf das Wohlwollen seiner Mitmenschen angewiesen.

Doch seit der Antike haben sich die Lebensbedingungen für blinde Menschen in vielen Ländern glücklicherweise deutlich verbessert. Dadurch hat sich auch das Selbstverständnis und Selbstbewusstsein von Menschen mit Behinderungen gewandelt. Das spiegelt sich in der UN-Behindertenrechtskonvention aus dem Jahr 2008 wieder. Gleich in der Präambel wird die Gleichwertigkeit und Gleichberechtigung von Menschen mit Behinderungen festgehalten. Der Zustand einer Behinderung wird nicht mehr nur medizinisch, sondern auch sozial definiert. Man ist nicht in erster Linie durch einen medizinisch defizitären Körpers behindert, sondern man wird durch die Barrieren in der Umwelt behindert.

Anderssein ist somit völlig in Ordnung.

Wie lesen Menschen mit Behinderungen heute die Erzählungen von Wunderheilungen, in denen das Anderssein oft als großes Übel und Gottesferne, gesehen wird?

Was denken sie, wenn die Herstellung eines körperlichen Normalzustandes als Wunder gefeiert wird?

Die rollstuhlfahrende Theologin Dorothee Wilhelm sagt dazu: „Wenn in der Bibel Menschen mit Behinderungen per Wunder „emporgeheilt“ werden, ist das keine Hilfe, sondern ganz im Gegenteil ein Ärgernis, weil sie in der Befreiung geschildeter Heilung die Abwertung der abweichenden Körper noch affirmieren.“

Damit sind wohl nicht nur die biblischen Geschichten im Original gemeint, sondern auch die Betonung des Wunderhaften der Heilung in Bibelkommentaren und in Predigten etc.. Diese lassen teilweise außer Acht, dass Menschen mit Behinderungen das als kränkend empfinden könnten.

Darüber hinaus weist die ebenfalls behinderte Theologin Sharon V. Betcher auf eine Abwertung von Menschen mit Behinderungen hin:
„Bei den Heilungsgeschichten würde (…) eine sich daraus ergebende Notwendigkeit der Heilung vorausgesetzt werden (…)“.

Menschen mit Behinderungen sind also nicht in Ordnung, so lange sie nicht „geheilt“ werden.

Ich wollte wissen, ob die vorher genannten Aussagen von anderen Menschen mit Behinderungen geteilt werden. Als ersten Schritt zur Erforschung dieses Themas habe ich drei blinde Menschen befragt. Diese drei Menschen leben alle in Bayern, haben studiert, sind berufstätig und politisch engagiert. Man kann also nicht von einer breit angelegten Studie mit einer heterogenen Proband:innengruppe sprechen. Doch für einen ersten Eindruck finde ich die Ergebnisse durchaus hilfreich.

Aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes habe ich die Namen der Befragten komplett und das Alter leicht geändert.

Ich habe Hella (46 Jahre), Maximilian (44 Jahre) und Roland (23 Jahre) die Bibelstelle per E-Mail zugeschickt und sie gebeten, spontan ihre Gefühle und Gedanken zu diesem Text zu notieren.
So fiel das Feedback der drei befragten blinden Menschen aus:
Roland fällt auf, dass andere Jesus bitten, den blinden Mann zu berühren.
Roland schreibt: „Vielleicht würde ich als Blinder in der Situation sagen, dass ich selbst um Hilfe bitten kann.“
Roland irritiert auch der Ausdruck er wurde „wieder hergestellt“, bzw. bei in der Luther-Übersetzung „zurecht gebracht“.
Roland schreibt:  „Als wäre es ein heilbarer Makel, ein Defekt, ein Fluch, der auf Blinden lastet.“
Maximilian ist theologisch ausgebildet. Er schreibt zu dem Ausdruck „wiederhergestellt“ (im griechischen Original ἀπεκατέστη)  sowohl seine eigenen Gedanken, als auch eine theologische Auslegung:
„Das sieht nach einem klassischen Beispiel aus für das veraltete, zu beseitigende, zu überwindende ‚gottverdammte‘ defizitorientierte Behinderungs- oder Behindertenbild. Jedenfalls verstehe ich alle, die es so verstehen, und damit die christliche Botschaft, genauer: die Botschaft des Evangeliums, vorzeitig leider komplett mit entsorgen.
Doch die Sache ist ja etwas anders. Am Beispiel blinder Menschen oder Menschen mit anderen Behinderungen oder auch Krankheiten zeigt uns Jesus ‚zeichenhaft‘ oder ‚anfanghaft‘, dass wir alle, absolut alle, ‚zurechtgebracht‘ und wiederhergestellt werden müssen. Denn wir alle haben sozusagen spirituelle Behinderungen. (…) Deshalb empfinde ich es auch nicht als ‚ungerecht‘, nicht ‚geheilt‘ zu sein. Vielmehr geht es mir so, dass ich sagen würde: Ich muss doch nicht geheilt werden, ich bin ja nicht krank, ich bin halt blind und muss, was das betrifft, auch nicht ‚wiederhergestellt‘ werden. Der Heilung bedarf ich, aber nicht aufgrund der Blindheit im Speziellen.“

Hella hat einen ganz anderen Blick auf die Bibelstelle.
Sie schreibt: „Ich finde die Geschichte, die Botschaft an sich wunderbar, Hoffnung gebend etc. Allerdings denke ich dabei nicht einfach nur an das „blind sein“ mit den Augen, sondern vielmehr an die Menschen, welche im Herzen blind sind, weil sie nicht nach links und rechts oder über den Tellerrand schauen können, nur in ihrem eigenen „kleinen, engen Tunnel“, also Blickfeld unterwegs sind. Vielleicht sogar sozial verarmt, unverschuldet einsam oder auch selbst verschuldet belastet durch ihr bisheriges Tun… .„

Maximilian bringt noch ein weiteren Gedanken ein:
„Die Kirchen haben gerade behinderte Menschen oft zu Objekten gemacht. Evangeliumsgemäß ist das nicht. Evangeliumsgemäß ist, dass Jesus ein Empowerment-Trainer ist.“
Maximilian bezieht sich dabei auf eine andere Bibelstelle. In dieser Stelle bittet der blinde Bartimäus selbst mit Nachdruck Jesus um Hilfe.

Aber auch in der von mir untersuchten Bibelstelle findet sich so eine Stelle. Denn in Vers 24 sagt der blinde Mann, dass er erst verschwommen sieht. Daraufhin fährt Jesus mit der Heilung fort.

Diesen Mut muss man sich mal vorstellen: Der berühmte Jesus legt einem die Hand auf und dann traut man sich zu sagen, dass das Ergebnis nicht optimal ist. Diese Courage zahlt sich aus: Jesus reagiert nicht beleidigt, sondern fährt mit der Heilung fort, bis das Ergebnis optimal ist.

Ich persönlich verstehe das als Ermutigung. Alle Menschen mit Behinderungen sollen dafür kämpfen, dass sie die bestmögliche Unterstützung bekommen.

Aus meinem eigenen Leben weiß ich, dass Menschen mit Behinderungen laut sein müssen, damit sie nicht vergessen werden. Deshalb denke ich, dass diese  Bibelstelle trotz allem auch ein ermutigender Wegweiser für Menschen mit Behinderungen ist.

Ich denke, um die Bedeutung der Wunderheilungen ins rechte Licht zu rücken, müssen die vielen inklusiven Inhalte der Bibel besser benannt und die auf den ersten Blick exklusiven Inhalte besser erklärt werden.

Dieser Blog soll ein Beitrag dazu sein.

Dieser Blogartikel ist aus diesem Essay entstanden:

Die Perikope „Jesus heilt einen Blinden.“ (Mk 8,22-26) mit besonderer Berücksichtigung der Rezeption durch Menschen mit Sehbehinderungen.

Essay zur Vorlesung: Welt und Umwelt des Neuen Testaments. Eine Einführung.

Prof. Dr. Robert Vorholt, Professur für Exegese des Neuen Testaments, Universität Luzern

Herbstsemester 2022

Verwendete Literatur:

Dschulnigg. Theologie und Exegese des NT. 2010.

Fixot, Michel. Saint-Victor de Marseille, 2014

Popkes, Enno. „Jesu Auftrag, Kranke zu heilen. Die Heilungen der Nachfolger und Nachfolgerinnen.“ Jesus der Heiler, Nr. 76, 2/25, S. 54–59.

Schiefer Ferrari, Markus. Exklusive Angebote: biblische Heilungsgeschichten inklusiv gelesen. 2017.

Schnelle, Udo. Einleitung in das Neue Testament. 9. Aufl., 2017.

Schroer, Silvia, und Thomas Staubli. Die Körpersymbolik der Bibel. Sonderausg, 2012.